Zeugen_innen gesucht
Sexualisierte Polizeigewalt während der G8 Proteste in Heiligendamm 2007
Während der G8 Proteste rund um Heiligendamm kam es wiederholt zu
Sexismus, sexualisierter Polizeigewalt und zur Androhung von
sexualisierter Polizeigewalt. Wir suchen Zeugen_innen, einmal um einen
internen Austausch und eine gegenseitige Stärkung der Betroffenen zu
erreichen, zum anderen damit in anonymisierter Form eine Betroffenengruppe
auftreten kann. Dies ist wichtig, damit das Thema politisch ans Tageslicht
kommt, denn sexualisierte Polizeigewalt wird meistens nicht und schon gar
nicht in der Öffentlichkeit benannt. Dies ist auch für den zu erwartenden
Untersuchungsausschuss von Bedeutung. Wichtig ist uns hierbei noch darauf
hinzuweisen, dass es auch innerhalb der Anti-G8-Protestbewegung zu
Sexismus und sexualisierter Gewalt kam, damit nicht mit dem Blick auf die
Polizei die sexualisierte Gewalt innerhalb der Bewegung nach Hinten
rutscht.
Doch bevor wir konkreter werden erst einmal zur Einordnung von Sexismus
und sexualisierter Gewalt allgemein. Die Einteilung der Menschen in zwei
Geschlechter und die Hierarchisierung von Geschlecht ist die Herstellung
eines Machtgefälles auf dem unsere Gesellschaft aufbaut. Darüber werden
Ein- und Ausschlüsse, bestimmte Zuschreibungen und Aufgaben zugeordnet,
von gesellschaftlicher Arbeitsteilung bis zu z.B. Redeverhalten. Zur
Aufrechterhaltung dieses Machtgefälles muss dieses immer wieder aktiv
hergestellt werden. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind in diesem
gesellschaftlichen Prozess ein Machtmittel, um diese Gewaltverhältnisse
aufzubauen und aufrechtzuerhalten und um Hierarchien und Abhängigkeiten
herzustellen und aufrechtzuerhalten. Also eine alltägliche Praxis zur
Herstellung von hierarchischen Geschlechterverhältnissen.
Nun zu Sexismus und sexualisierter Gewalt als Praktiken von staatlichen
Zwangsinstitutionen, wie der Polizei und der Armee:
Sexismus und sexualisierte Gewalt und speziell Vergewaltigungen sind u.a.
in Kriegssituationen als bewusst eingesetztes und z.T. befohlenes Mittel
der Zerstörung, Machtausübung und Demütigung des so genannten Feindes
bekannt. Doch auch in so genannten Friedenszeiten wird strukturelle Gewalt
durch Sexismus und sexualisierte Gewalt hergestellt. Im herrschenden
Diskus wird immer wieder suggeriert, dass es sich bei sexualisierter
Gewalt und Vergewaltigung um Ausnahmezustände und exponierte Einzelfälle
handelt. Die Realität ist jedoch, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt
ein alltäglicher Zustand sind, also der Regelfall. Sexismus und
sexualisierte Gewalt wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Waffe und ist
ein gezielt eingesetztes Mittel der Gewaltanwendung und Unterwerfung. Dies
hat Kontinuität, so ist z.B. in Genua nach dem Überfall auf die
Diaz-Schule mehreren Frauen mit Vergewaltigung gedroht worden.
Sexualisierte Gewalt übergeht das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen
Personen völlig. Es greift die körperliche und psychische Integrität an
und wirkt traumatisierend.
Zu der schrecklichen Erfahrung von Gewalt, Ohnmacht und Demütigung kommt
für Opfer sexueller Gewalt zusätzlich die Belastung durch eigene Gefühle
von Scham und Schuld mit denen Betroffene meist zu kämpfen haben. Darüber
hinaus ist es bis heute ein ungeheures Stigma, sich selbst als Opfer
sexualisierte Gewalt zu bezeichnen. Also den Schritt zu gehen sich selbst
darin wahrzunehmen, die Gewalterfahrung zu formulieren, zu politisieren,
Täter zu benennen und anzuklagen. Aus all diesen Gründen kann
sexualisierte Gewalt öffentlich meist nicht als solche benannt werden. Es
sind enorme Ressourcen wie Unterstützung durch Freund_innen,
Beratungsstellen oder Unterstützer_innen-Kreise nötig, um diesen Schritt
der Benennung zu wagen. Doch selbst wenn die Betroffene die Kraft findet,
über das Erlebte zu sprechen, kommt es meist zu sekundärer Viktimisierung,
also zu weiteren Verletzungen in Folge. Zu dieser Belastung, immer wieder
über traumatische Erlebnisse sprechen zu müssen, kommen die meist
katastrophalen Reaktionen von Aussen hinzu: Entweder wird der Frau nicht
geglaubt, es werden detaillierte Informationen eingefordert, ihr wird eine
Mitschuld zugewiesen oder sie wird pathologisiert, d.h. als krank,
verrückt oder hysterisch diffamiert.
Dies sind u.a. Gründe, warum es Betroffene nicht wagen rechtliche Schritte
einzuleiten. Sei es, dass bei ihnen der Glaube an das Rechtssystem
erschüttert ist oder sie sich nicht stark genug fühlen, diesen Weg gehen
zu können oder sie der Stigmatisierung durch andere zu entgehen versuchen.
Der grösste Teil der Vorfälle wird nicht zur Anzeige gebracht und auch wir
als Unterstützungsgruppe von Betroffenen raten meist von Anzeigen ab.
Auf der anderen Seite reagieren Betroffene auch aus der Stärke heraus,
dass ihnen im Vorfeld bewusst ist, dass es zu Repression kommen kann und
Sexismus und sexualisierte Gewalt ein Teil darin ist, sie sich davon nicht
einschüchtern lassen und sich innerlich dagegen wappnen. Die Stärke und
Entschlossenheit der Bewegung wurde hier von ihnen genutzt, um
Gewalterfahrungen nicht so stark an sich ranzulassen und dem voll
Selbstvertrauen zu begegnen.
Die Vorkommnisse mit denen Menschen sich an uns wandten reichen z.B. von
der Verweigerung von Tampons über Kontrollen, bei denen die Betroffenen in
den Schritt oder an die Brust gefasst wurden, z.T. begleitet von
anzüglichen Geräuschen über Kontrollen oder ID Behandlungen, bei denen
sich Betroffene vollständig oder halb nackt ausziehen mussten und
fotografiert wurden bis zu Androhungen von Vergewaltigung in
Gefangenensammelstellen.
Alle diese hier beschriebenen Situationen fanden in einem Kontext statt,
in dem die Polizei oft willkürlich ihren Macht- und Souveränitätsanspruch
demonstrierte und durch Zwang und Gewalt durchsetzte. AktivistInnen sahen
sich zum Teil schwarz vermummten und gepanzerten Polizeikräften gegenüber.
Aber allein schon eine willkürliche Durchsuchung, erst Recht eine
willkürliche Ingewahrsamnahme zur sogenannten "Gefahrenabwehr", ist von
der symbolischen Grammatik mehr als eindeutig ein: WIR HABEN DIE MACHT -
IHR NICHT.
Sexismus und sexualisierte Gewalt wie in den beschriebenen Beispielen
stehen immer in diesem Kontext. Sie werden bewusst und gezielt eingesetzt,
um die symbolisch ohnehin schon inszenierte Demütigungs- bzw.
Unterwerfungspraxis zu verstärken.
antisexist_awareness_group@riseup.net