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Rezension von Anna Lukowá zu:
Friedländer, Saul: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. Gesamtausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, 869 S., ISBN: 978-3-423-34519-4, EUR 19.90.
"Schreibt alles auf!" rief der 81-jährige Historiker Simon Dubnow anderen Juden zu, als er am 8. Dezember 1941 in Riga abgeholt wurde, um erschossen zu werden. Man hat den Eindruck Saul Friedländer hat sich diesen Ausdruck sehr zu Herzen genommen. Unter der Vielzahl an erschienenen Gesamtdarstellungen über die Shoa ragt "Das Dritte Reich und die Juden" durch seine narrative Dichte und seine Empathie für die Opfer besonders heraus. Wurde mit dem Vorgängerband "Die Jahre der Verfolgung" die zielstrebige Suche nach der Lösung der «Judenfrage», durch das Unterminieren der rechtlichen und sozialen Situation über das Anwenden repressiver Massnahmen bis hin zur Zwangsemigration, im nationalsozialistischen Deutschland von der Machtübernahme bis zum Überfall auf Polen thematisiert, setzt der zweite Band mit dem Ausbruch des Krieges und der damit weiteren Verschlechterung der Lage der europäischen Jüdinnen und Juden ein. Diese Phase, von 1939 bis 1941, markiert den systematischen Übergang zum genozidalen Menschheitsverbrechen. Die bis dato geplanten territorialen Lösungsansätze (Vertreibung, Umsiedlung etc.) wandeln sich, unter der Radikalisierung des Regimes und dem daraus zunehmenden Terror in den besetzen Gebieten Ost- und Westeuropas, in die systematisch geplante physische Vernichtung; die «Endlösung der Judenfrage». In kompositorischer Könnerschaft verbindet Friedländer die nüchterne Autopsie der industriellen Elimination mit der sensiblen Vergegenwärtigung des Lebens und Strebens ihrer Opfer. Der Totalität der Shoa kann für Friedländer nur eine "integrative und integrierte Geschichte" (vgl. S. 368) gerecht werden. Er beschränkt sich daher nicht nur auf die deutsche Perspektive, sondern gibt den Geschehnissen eine gesamteuropäische Dimension. Genau so umfassend verschafft er den "Stimmen der Opfer" (vgl. S. 377) - in einem vielfältigen Chor von Stimmen - gehör und demonstriert ergänzend die ständige Interaktion selbiger mit der umgebenden Welt. Der Autor erhellt damit die vielgestaltige europäische Landschaft mit ihren rasch wechselnden politisch-militärischen Konstellationen und ihrer spezifischen antijüdischen Tradition. Man erkennt, wie stark die Durchsetzung und Ausführung des Vernichtungsprogramms auch von der Bereitschaft der Kollaboration in den besetzen Gebieten abhing. In diesem Sinne gleichsam konstatiert Friedländer, dass keine Gruppe der (deutschen) Gesellschaft und ihrer Institutionen der Ausgrenzungs- und schliesslich Vernichtungspolitik aktiv widerstanden hat, so dass sich die antijüdischen Strategien bis zur letzten Konsequenz entfalten konnten "ohne das irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten."(vgl. S. 374)Er exemplifiziert dies am Beispiel der Haltung der beiden grossen deutschen Kirchen, die geprägt durch den christlichen Antijudaismus waren diese unfähig, der völkischen Radikalisierung des Antisemitismus zu entgegnen. Gleiches gelte für die konservativen Eliten des Staates und des Militärs. "Das Ausbleiben einer allgemeinen Solidarität mit den eigenen Staatsbürgern jüdischen Glaubens[...]ändert freilich nichts daran, dass die Deutschen die Anstifter und Hauptakteure" (vgl.S.374) der Judenvernichtung waren. Friedländer skizziert (wie in "Die Jahre der Vernichtung")seine These, Hitlers Antisemitismus weise neben seiner völkischen Radikalisierung ein eschatologisches Moment auf, das die Motivlage für die Vernichtung der europäischen Juden bilde. Dieser «Erlösungsantisemitismus» sei im Laufe der NS-Herrschaft von einer Mehrheit der Deutschen geteilt worden. Ausführlich zitiert der Autor aus Hitlers Ansprachen um zu belegen, dass der Antisemitismus Dreh- und Angelpunkt jedes Elements der nationalsozialistischen Politik gewesen ist. Ausschlaggebende Autorität bei der Durchführung und der ideologischen Begründung der Vernichtung, blieb demnach immer der Reichskanzler persönlich. Von der These, lokale Mordinitiativen hätten den Kurs des Massenmords vorgegeben, hält der Autor wenig. Dieses Buch untermauert wie kein anderes die Erkenntnis, dass die Triebkräfte der Shoa vor allem ideologisch-kultureller Natur gewesen sind und nicht "eine lediglich sekundäre Konsequenz" anderer - gar ökonomischer (Vgl. Götz Alys "Hitlers Volksstaat") Zielsetzungen gewesen. Steffen Richter |
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