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Die Flucht nach Shanghai

"Als wäre der Verfolgte ein Schnorrer, der den Steuerzahler und den Nachfolgestaat des Dritten Reiches um die Früchte des Wohlstands prellen wollte". Es sind solche Sätze am Ende des neuen Romans von Ursula Krechel "Shanghai fern von wo", die dem_der Leser_in die Situation eines Überlebenden der Nazi-Verbrechen nach 1945 vorführen. Während die "deutsche Rückkunft" (Jean Améry) rasch vonstatten geht und die Deutschen fleissig "wirtschaftwundern", kämpfen die Verfolgten um-zumindest-eine kleine finanzielle "Wiedergutmachung". Ludwig Lazarus-einer der Protagonisten des Buches-,dessen archivierte Tonbandaufnahmen Ursula Krechel in den Roman einfliessen lässt, wagt die Rückkehr nach Deutschland und erfährt das, was die meisten der Opfer erfahren mussten: Mitleidlosigkeit, Ignoranz und Demütigungen.

Alle Protagonist_innen des Romans verbindet die Flucht vor den Deutschen nach Shanghai. Die zum Teil international verwaltete Stadt bot für viele Jüdinnen und Juden eine letzte Möglichkeit der Flucht, nach den Pogromen 1938 insgesamt 18 000.

Hat diese Stadt eine visumfreie Einreise und ein Überleben garantiert, war das Leben eher von Elend, Leid und der permanenten Suche nach Einnahmequellen geprägt. Viel musste bei denen im Buch vorkommenden Personen nicht "hinzuerfunden" werden, sie haben alle existiert und der Roman baut grösstenteils auf den Erzählungen der Flüchtlinge auf.

Der einst erfolgreiche österreichische Rechtsanwalt Tausig, welcher mit seiner Ehefrau flüchtet, wird sich seiner Überflüssigkeit gewahr. Für den Kunsthistoriker Brieger hält Shanghai auch nicht viel Möglichkeiten der Tätigkeit bereit, während der Uhrmacher Kronheim mit seiner Familie zumindest eine kurze Zeit Auskommen findet. Die Rosenbaums schaffen es ihre Lederhandschuhe an die Betuchteren und japanischen Offiziere (ab 1938 ist Shanghai durch die japanische Armee besetzt) zu verkaufen.

Gefährlich wird es für die vielen von den Deutschen bereits zu Staatenlose gemachten Flüchtlingen erst, als 1942 der SS-Standartenführer Josef Meininger nach Shanghai entsandt wurde. Der "Deutsche Rundfunksender Shanghai" (XGRS) verbreitet nun ganz offen antisemitische Propaganda und die Deutschen fordern die Japaner auf, alle Staatenlosen in ein Ghetto zu pferchen.

Auch bei dem deutschen NS-Propagandasender gibt es keine Erfindungen. Erstaunlich nur, dass Krechel den Rundfunkattaché Erwin Wickert, welcher für den NS-Sender in Shanghai ab 1940 verantwortlich war, nicht erwähnt. Wird doch gerade hier wieder deutlich, wie nahtlos Karrieren nach 1945 fortgesetzt wurden.

Ursula Krechel verwebt die (Über)Lebensereignisse der Flüchtlinge miteinander und baut immer wieder die Tonbandaussagen von Lazarus ein. Ihre Sprache ist dabei nicht erschütternd, sie beschreibt Tatsachen.

Diese Lebensgeschichten müssen erzählt werden. Ursula Krechel hat dies in einer beeindruckenden Art aus einer Mischung von Gefühlen und Tatsachen getan.

Ursula Krechel: "Shanghai fern von wo", Jung und Jung, Salzburg 2008, 29,90 Euro.

Gibt's auch im Buchladen König Kurt auf der Rudolf Leonhard Strasse 39 (AZ Conni).


Lion Faber

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