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Zur Lage geflüchteter Menschen in Calais (2)

Nachdem im letzten Artikel Aufschluss darüber gegeben werden sollte, wie es zur derzeitigen Situation für Migrantinnen und Migranten in Calais kommen konnte, soll nun im zweiten Artikel näher auf die aktuelle Lage vor Ort eingegangen werden. Der Hintergrund für den Artikel ist eine über Spenden finanzierte Fahrt von mehreren Menschen in die nordfranzösische Stadt im August letzten Jahres. Bereits 2012 waren aus diesem Grund Teile der Dresdner "Black Wok"-Gruppe für eine Woche nach Calais gefahren, um gemeinsam für geflüchtete Menschen zu kochen.

Zur Zeit halten sich in Calais mehr als 2.000 Migrantinnen und Migranten auf. Sie kommen aus Syrien, dem Südsudan, Somalia, Eritrea, Äthiopien, Libyen, Iran, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern. Viele bewegen sich in kleinen Gruppierungen aus Geflüchteten gleicher Herkunftsländer. Sie durchleiden auf ihrem Weg nach Frankreich körperliche Strapazen und werden teilweise von und für ihre Familien vorgeschickt. Dies führt letztlich dazu, dass ein Grossteil von ihnen männlich und vergleichsweise jung ist. Im Laufe der letzten Jahre hat die Zahl der Frauen und Kinder allerdings zugenommen. Die verschiedenen geographischen und biographischen Hintergründe der in Calais gelandeten Menschen sind ein Grund dafür, dass sie nicht als homogene Gruppe verstanden werden können. So ist auch der alltägliche Umgang der Menschen untereinander von Konflikten geprägt. Das Zusammenleben-Müssen unterschiedlichster Charaktere aus verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit verschiedenen Vorstellungen und Gewohnheiten (z.B. Glaube, Essensgewohnheiten, Hygiene, Verständnis von Gemeinschaft, etc.) in höchster Stress- und Notlage, stellt eine Zerreissprobe für alle geflüchteten Menschen dar.

Die 'Unterkünfte'

Das Squat (engl. für besetzte Haus) ist im Osten der Stadt auf dem Gelände der ehemaligen Chemiefabrik Tioxide gelegen. Das Gelände befindet sich in einer Sackgasse neben anderen Industriebrachen, bereits eine Strasse weiter schliessen sich allerdings Wohn- und Geschäftsstrassen an. Eine hohe Mauer umschliesst den Hof, eine kahle Betonfläche, welche durch ein einziges Tor zu betreten oder zu verlassen ist. Aufgrund der verseuchten Bausubstanz und gesundheitsschädlichen Ausdünstungen in der Fabrikhalle hielten sich die Menschen im Sommer auch bei Regen weitestgehend draussen oder gedrängt in einem kleinen Nebengebäude auf. Was fehlt sind elementare Dinge, wie Zelte, Isomatten und Schlafsäcke. Als Schlafunterlagen dienen oft Pappen; neben Zelten werden Plastikplanen und Anderes zum Schutz verwendet.

Die hygienische Situation im Squat ist miserabel. Ein einziger Trinkwasserschlauch wird von gut einhundert Menschen, die ständig im Squat leben und etwa 300 Menschen, die sich tagsüber dort treffen, geteilt. Es gibt keine sanitären Anlagen, lediglich zwei Dixi-Klos. Im Sommer wurde im Squat teilweise von Aktivistinnen gekocht, auch selbstorganisiertes Kochen aus Lebensmittelspenden fand statt. Trotz angedrohter Räumung seitens der Polizei wird das Squat derzeit von Migrantinnen und Migranten gehalten. Immer wieder kam es jedoch zu Repressionsmassnahmen, wie beispielsweise dem Abdrehen der Wasserleitung.

Die Schliessung des Rote-Kreuz-Camps in Sangatte zwang die Menschen 2002 dazu, sich in den Jungles selbst zu versorgen. Diese liegen versteckt im Hafengebiet, im Wald oder auf einem alten Sportplatz mit Halle. Es gibt keinen Wasserzugang. Nachdem es gelang, gemeinsam einige Hydranten, welche für Feuerwehr-Zwecke im Gebiet installiert sind, zu öffnen, liess der Stadtrat die Hydranten verschliessen, in einem Fall sogar zubetonieren. Die Jungles verfügen über keine Toiletten, die Umgebung verschmutzt aufgrund der nicht vorhandenen Müllentsorgung, vor allem im Winter sind die Zustände oft lebensbedrohlich. Im Sommer gab es drei grosse Jungles, benannt nach den grössten ethnischen Gruppen, mit etwa 500 (Eritrean/African Jungle), 700 (Afghan Jungle) und 200 (Sudanese Jungle) Personen. Die Menschen dort sind ebenso den polizeilichen Repressionsmassnahmen ausgesetzt. Im Rahmen von brutalen Razzien wurden unter anderem Zelte und Schlafsäcke zerstört oder durch Pfefferspray unbrauchbar gemacht. Eine weitere Abschreckungsaktion der Polizei ist der morgendliche Terror mit Sirenen. Die Jungles sind für die Bevölkerung quasi unsichtbar, was Gewalt im Verborgenen ermöglicht. Intern wird um die knappen Ressourcen oder darum gekämpft, welche Gruppe die Flucht auf welchen LKW-Parkplätzen versuchen darf. Dennoch unterstützen und schützen sich die Gemeinschaften. Menschen kochen, spielen, singen gemeinsam und tauschen ihre Erfahrungen über Fluchtstrategien aus. Im African Jungle haben einige Frauen ein improvisiertes Restaurant eröffnet. Im Sudanese Jungle hat sich eine Infrastruktur etabliert, die die Essensverteilung zu einer gemeinsamen Sache machte.

Medizinische Versorgung

Wie in vielen französischen Städten existiert auch in Calais eine PASS-Klinik (Zugang zum Bereitschaftsdiensts des Gesundheitswesens), welche auf Drängen von Médicines du Monde (Ärzte der Welt) und Médicines Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) im Dezember 2006 eröffnet wurde. PASS Kliniken sind staatliche Einrichtungen, die eine kostenlose medizinische Grundversorgung für bedürftige Menschen bereitstellen sollen. Die PASS-Klinik in Calais wurde mittlerweile in das neue Krankenhaus ausserhalb der Stadt verlegt, was die Erreichbarkeit für die geflüchteten Menschen erschwert. Viele von ihnen haben ausserdem Angst, in die PASS-Klinik zu fahren, da sie befürchten, identifiziert zu werden. Auch von schlechter medizinischer Versorgung wurde von Patientinnen und Patienten berichtet. Die Klinik verfügt über zwei Duschen, sechs weitere Duschen werden von Secours Catholique (franz. Caritas) gestellt. Sie befinden sich ausserhalb der Stadt, so dass Migrantinnen und Migranten zum Duschen im Auto abgeholt werden. Im September wurden die Duschkabinen bei einem rassistisch motivierten Angriff zerstört. Zudem haben die Médecins du Monde seit diesem Jahr ein Wohnmobil bereitgestellt, mit dem sie in die verschiedenen Jungles fahren, um die Menschen duschen zu lassen. Gemeinsam mit den vier Dixis im Squat und den Jungles ist dies alles, was in Calais an sanitären Einrichtungen für 2.500 Menschen zur Verfügung steht. Die grösste Leerstelle der medizinischen Versorgung ist neben dem allgemeinen Personalmangel vor allem das Fehlen einer psychologischen Betreuung. Es gibt keine Anlaufstelle für all die Menschen, welche traumatisiert durch die Erlebnisse auf ihrer Flucht und der Situation in Calais, professionelle Hilfe benötigen.

Versorgung mit Essen

Die Versorgung mit Essen ist absolut ungenügend. Viele Menschen leiden Hunger und das Beschaffen von Nahrung stellt, neben den täglichen Fluchtversuchen, jeden Tag aufs Neue eine existenzielle Aufgabe dar. Ehrenamtliche Organisationen leisten einen wichtigen Beitrag, der jedoch nicht ausreicht, den Hunger Aller zu stillen. Täglich werden von der 2002 gegründeten NGO Salam etwa 500 Portionen warmes Abendessen ausgeteilt, für das die Migrantinnen und Migranten meist ein bis zwei Stunden früher auf dem Gelände Schlange stehen. Um das Angebot anzunehmen, müssen sie lange Wege durch die Stadt auf sich nehmen. Dabei müssen sie den relativen Schutz ihrer Verstecke aufgeben, um unter den Augen der Polizei auf dem zentrumsnahen Gelände essen zu können. Der Verein Reveil Voyageur gibt dreimal pro Woche Frühstück zwischen dem African und dem Afghan Jungle aus. Auch Lebensmittelspenden von Emmaüs stehen zur Verfügung. Mangels Fahrzeugen, Ausgabestellen, Helferinnen und Helfern sowie den inkonstanten Essensspenden ist jedoch auch hier nur wenig Planbarkeit möglich.

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