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Tödliche Medizin: Rassenwahn im Nationalsozialismus

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Texte, die in Bezug zur am 11. Oktober im Hygienemuseum beginnenden Ausstellung "Tödliche Medizin - Rassenwahn im Nationalsozialismus" stehen. Zum einen handelt es sich um den vom DHM selbst herausgegebenen Begleittext zur Ausstellung, zum anderen um einen Protestaufruf namhafter Ver-bände internationaler Psychiatriekritiker_innen anlässlich der Ausstellungseröffnung. Zur Begründung geben letztere an, das DHM betriebe mit der Ausblendung von mehr als 20.000 in deutschen psychiatrischen Anstalten zwischen 1945 und 1949 ermordeten Insass_innen "Geschichtsfälschung".

Diese Kontroverse ist uns ein paar Zeilen wert...

Im inhaltlichen Kern gibt es soweit keine inhaltlichen Differenzen zwischen uns und den Forderungen der PsychiatriekritikerInnen. Im Gegensatz zu einer Reihe anderer wissenschaftlicher Fakultäten, in denen postfaschistische Kontinuitäten in Theorie, Praxis und Personal längst erforscht und anerkannt sind (mensch denke beispielsweise an den Bereich der Justiz) scheint es in der Medizingeschichte und (mehr noch) der Psychiatriegeschichte nach 1945 erhebliche Wahrnehmungslücken zu geben. Die im Text angesprochenen Beiträge von Klee und Faulstich bilden dabei eine rühmliche Ausnahme. Umso verwunderlicher ist auch, dass trotz längerfristiger Kenntnis und Anerkennung der beschriebenen Tatsachen seitens des Hygienemuseums keine zeitliche Erweiterung realisiert wurde. Nun ist verständlich, dass das Dresdner Hygienemuseum wohl nicht recht in der Position ist, an einer Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum (www.ushmm.org) Veränderungen oder Ergänzungen vorzunehmen, allerdings brachten auch die Hinweise von PsychiatriekritikerInnen auf vorhandene Kontinuitäten nach 1945 schon während der Konzeption der Ausstellung in den USA allenfalls den Erfolg, die Nachkriegskarrieren bestimmter namhafter VertreterInnen der deutschen "Euthanasie"-Praxis zu benennen.

Trotz dieser inhaltlichen Probleme mit der Ausstellung "Tödliche Medizin" halten wir den Vorwurf der Geschichtsfälschung für nicht zutreffend und den Tonfall des Aufrufs für allgemein nicht angemessen. Die vorgenommene Zäsur von 1945 mag, wie auch an vielen anderen Stellen, fragil und willkürlich sein, dem Hygienemuseum daraus aber die Intention des Schutzes deutscher TäterInnen in der Psychiatrie zwischen 1945 und 1949 zu unterstellen erscheint uns gewagt und schwer nachvollziehbar. Gerade das DHM mit seiner Vorreiterrolle in Sachen nationalsozialistischer Rassen- und Gesundheitspolitik vollzieht mit der Durchführung dieser Ausstellung einen wichtigen und hoch anzurechnenden Schritt in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit als Institution. Einen weiteren wesentlichen Kritikpunkt am Aufruf sehen wir in der darin vorgenommenen Gleichstellung zwischen jüdischen Opfern und denen psychiatrischer Anstalten. Zur Darstellung der Etikettierung einer bestimmten, per definitorischer Zuschreibung markierten Gruppe von Menschen und der Verbrechen an diesen den Vergleich mit einer anderen Gruppe heranzuziehen, ist schon im Generellen eine fragwürdige Sache. Eine Gleichsetzung des Umgangs mit als psychisch krank bezeichneten Personen in den 60er Jahren und / oder heute mit dem, der die Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus betraf, ist nicht einleuchtend, kauft sich aber mindestens unnötig die Gefahr der Gleichmacherei ein.

Auf die Fortführung der Debatte darf mensch in jedem Falle gespannt sein. Im Angesicht der angekündigten Proteste wurde von Seiten des DHM mittlerweile zugesagt, dem vorgebrachten Kritikpunkt innerhalb des Rahmenprogramms stärkeren Wert beizumessen.

Im Folgenden zunächst der Einladungstext des Deutschen Hygiene-Museums, gefolgt vom Aufruf der PsychiatriekritikerInnen.

terminal

Tödliche Medizin: Rassenwahn im Nationalsozialismus [12. Oktober 2006 bis 24. Juni 2007]

Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden zeigt eine Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museums. Zum ersten Mal präsentiert das Museum in Washington damit eine seiner Ausstellungen ausserhalb der Vereinigten Staaten.

Von 1933 bis 1945 ermordeten die Nationalsozialisten mehr als 200.000 Menschen im Zuge sogenannter "Euthanasie"-Massnahmen, 400.000 wurden Opfer von Zwangssterilisationen. Die Ausstellung des U.S. Holocaust Memorial Museums widmet sich mit sorgfältig ausgewählten Exponaten sowie eindringlichen Bild-, Text- und Filmdokumenten diesen im Namen der NS-Rassenideologie begangenen Verbrechen. Sie zeigt, wie mit der Hilfe von Ärzten, Medizinern und Anthropologen eine Gesundheitspolitik entwickelt wurde, die mit der Sterilisation von vermeintlich "erblich minderwertigen" Menschen begann, zum Massenmord an "lebensunwertem Leben" führte und zugleich die Voraussetzungen für die Ermordung der europäischen Juden schuf.

Das Deutsche Hygiene-Museum initiierte diese Ausstellungsübernahme vor dem Hintergrund der eigenen historischen Verantwortung als eine Institution, die die rassenhygienischen Programme einst vorbehaltlos unterstützte und propagierte. Die Ausstellungsthematik ist zugleich von besonders aktueller Relevanz für die Debatten um Auswirkungen der Genforschung, gesellschaftliche Diskriminierung von Behinderten und Definitionen von Leben und Tod. In Tagungen, Workshops und Podiumsdiskussionen werden neue Ansätze für eine fortwährende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland diskutiert. Unterschiedliche internationale Ansätze von Museums- und Gedenkstättenarbeit bei der Wissensvermittlung über den Holocaust stehen ebenfalls im Mittelpunkt.

Im museumspädagogischen Angebot geht es bei dieser Ausstellung insbesondere um die historisch-politische Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Anlässlich des beunruhigenden Zulaufs, den rechtsgerichtete Parteien in Sachsen und anderen Regionen Deutschlands erfahren, ist die Ausstellung ein Aufruf für mehr Demokratiebewusstsein, gesellschaftliche Toleranz und Mitmenschlichkeit. Theaterpädagogische Projekte, Zeitzeugengespräche, Lesungen und weitere Angebote richten sich gezielt an ein junges Publikum und laden zum europäischen Schüler- und Studentenaustausch ein.

Deutsches Hygiene-Museum Dresden

Geschichtsfälschung im Hygiene - Museum: Verleugnung der über 20.000 Mordopfer von 1945-49 - Aufruf zu Protest und Demonstration:

Das Hygiene-Museum in Dresden zeigt vom 12. Oktober 2006 bis zum 24. Juni 2007 die Ausstellung "Tödliche Medizin". In dieser Ausstellung werden aber die medizinischen Massenmorde in den Psychiatrien durch Todverhungernlassen von 1945 bis 1948/49 verschwiegen und damit die Geschichte gefälscht. Dabei handelt es sich von 1939 bis 1949 um dieselbe Gruppe der Opfer und dieselbe Gruppe der Täter und von 1945 bis 1949 um dieselben Mord-methoden wie von 1941 bis 1945. Heinz Faulstich hat in seiner Forschungsarbeit "Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949" (Lambertus-Verlag: Breisgau 1998) dieses Morden, das unter den Augen der Besatzungsmächte andauerte, beschrieben und Erst Klee hat es in seinem Film "Sichten und Vernichten" dokumentiert.

Im gesamtdeutschen Vergleich hatte die damalige Sowjetzone die höchsten Mordraten an den Überlebenden in den psychiatrischen Internierungslagern zu verzeichnen, wie Heinz Faulstich belegt. Wenn man die Sterbeziffern der nichtinternierten Bevölkerung den durchschnittlichen Sterbeziffern in den Anstalten in der Sowjetzone gegenüberge-stellt, wird offenkundig, dass die Sterberate in den Jahren 1946 und 1947 bei 24% in den Anstalten lag, dagegen waren es 2,1 bzw. 1,9% bei den Nichtinternierten, und im Jahre 1949 immer noch 9% gegenüber 1,3% (Faulstich 1998: 670 und 713).

In den vier allierten Besatzungszonen summieren sich diese vom medizinischen Personal begangenen Morde zu über 20 000 Opfern in der Zeit von 1946 bis 1948/49, also nach dem Ende der Naziherrschaft (vgl ebd. 715). Es ist davon auszugehen, dass es sich um weitaus mehr Opfer handelt. Die Fortführung der Forschung auf diesem Gebiet steht noch aus.

Dennoch sind die Allierten Befreier, denn nach einigen Jahren gingen unter den neuen Regierungen in Deutschland die Mordraten in den psychiatrischen Internierungslagern tatsächlich zurück.

Nun ein Blick auf die USA. Auch in der amerikanischen Zone starben in der Psychiatrien 9,9 % der Anstaltsinsassen im Jahre 1946; 8,0% im Jahre 1947 und 6,8% im Jahre 1948 (ebd. 713). Darüber hinaus gab es für die medizinischen Opfer der ärztlichen Verfolgung in den USA kein Asyl. Angeblich "psychisch Kranke", hätten sie der drohenden Gaskammer entkommen können, wären von den USA wieder zurückgeschickt worden, wenn sie ihre medizinische Verleumdung benannt hätten.

Zurück zur Geschichtsfälschung des Hygiene-Museums: Warum verleugnet das Hygiene Museum die Morde entge-gen besseren Wissens? Am plausibelsten ist die Vermutung, dass damit die Täter geschützt und die Verbrechen der Berufsgruppe der Täter nach 1949 gedeckt werden sollen. Denn wie ging es weiter mit dieser vermeindlichen "Wissenschaft" Psychiatrie? Welche Neuen, wieder vorgeblich "humanen" Methoden, folgen dem Morden als angeblichen "Gnadentod"? Lobotomie, also die psychiatrische Hirnchirugie. Der Elektroschock, der bis heute angewendet wird. Der Insulinschock und als letzte Neuerung, die Verabreichung von bewusstseinsverändernden sowie den Körper schädigenden Drogen- in der Psychiatrie immer unter der immanenten Drohung von Zwang oder mit direktem Zwang: Einsperrung und Fesselung, totale Kontrolle in einer totalen Institution. Der Zwang ist das Verbindende, was bei all diesen verschiedenen Methoden gleichgeblieben ist, um die sogenannte Krankheitseinsicht zu erzielen. Und bis heute können Psychiatrie-Erfahrene in die USA nur mit der Lüge einreisen, dass ihnen bisher keine verleumderische "Geisteskrankheit" z.B. eine sog. "Schizophrenie" attestiert wurde.

All diese legalisierten Menschenrechtsverletzungen beginnen mit einem verleumderischen Jargon: dazu Prof. Thomas Szasz:

"Schizophrenie ist ein strategisches Etikett, wie es "Jude" im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für "Müll"; sie bedeuten "nimm ihn weg", " schaff ihn mir aus den Augen", etc. Dies bedeutete das Wort "Jude" in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer be-stimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete "Ungeziefer", "vergas es". Ich fürchte, dass "schizophren" und "sozial kran-ke Persönlichkeit" und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten "menschlicher Abfall", "nimm ihn weg", "schaff ihn mir aus den Augen." (aus: 'Interview mit Thomas Szasz', in the New Physician, 1969)

Die medizinischen Menschenrechtsverletzungen finden ihren Höhepunkt im Massenmord. Ernst Klee hat es auf den Punkt gebracht: "Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte die Nazis." (aus seiner Rede beim IPPNW-Kongress in Nürmberg 1997)

Die International Association Against Psychiatric Assault (IAAPA), die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin Brandenburg e.V., und die Irren-Offensive e.V. hatten das Hygiene - Museum aufgefordert, die Ausstellung und die dazugehörige Broschüre entsprechend diesen Tatsachen zu ändern und die Geschichtsfälschung zu unterlassen. Die Museumsleitung ist dieser Aufforderung nicht nachgekommen, sondern will lediglich ihr Begleitprogramm ergänzen.

Wir rufen daher die Bevölkerung auf, gegen die Geschichtsfälschung zu protestieren und sich an der Demonstration am Tag der Eröffnung, am 11.10.2006, ab 12.30 Uhr vor dem Hygiene Museum in Dresden zu beteiligen. Um 18:00h findet die Eröffnungsfeier statt, zu der auch Innenminister Wolfgang Schäuble und der amerikanische Botschafter kommen.

Wir fordern:

  • Beendigung der Geschichtsfälschung - Schluss mit dem Leugnen der über 20.000 in den Psychiatrien in Deutschland Ermordeten von 1945 - 1948/49
  • Ermittlung und Veröffentlichung im Internet aller mutmasslich 300.000 Namen der Opfer des systematischen ärztlichen Massenmordes von 1939-1949, so dass Angehörige von dem wahren Schicksal ihrer Familienmitglieder überhaupt etwas erfahren können und das allermindeste an Würde der Opfer wiederhergestellt wird, indem wahrnehmbar wird, dass die Ermordeten existierten und einen Namen hatten.
  • Öffentliche Anerkennung, dass die internationale wie insbesondere die deutsche Psychiatrie wegen ihrer Massenmorde und ihres Folterregimes ein verbrecherisches Zwangssystem und keine Wissenschaft ist.

Wir weisen darauf hin, dass 1948 nach den Nürnberger Prozessen das Entsetzen über die Greueltaten der systematischen psychiatrischen Massenmorde in den Gaskammern der "Aktion T4", die 1939 als medizinisch-biologistische Kampagne in Deutschland angefangen hat, der dann die Vernichtungslager in Polen folgten, auch ein Anlass für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen war, um die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen.

International Association Against Psychiatric Assault, Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., Israeli Association Against Psychiatric Assault, Weglaufhaus Initiative Ruhrgebiet e.V., Irren-Offensive e.V., Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V., Werner-Fuss-Zentrum


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