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Schöner leben ohne Kameras
Konzeptpapier Spot off

Anlass uns zusammenzufinden waren die Pläne des damaligen Innenminister Hardrath und der Immobilienbesitzervereinigung Haus & Grund die Alaunstrasse in der Neustadt wegen Graffiti"schmierereien" mittels Videokameras überwachen zu lassen. Diese Forderung ist so neu nicht und verdeutlicht wohin die Reise geht.

Die Neustadt als ein innenstadtnahes Gründerzeitviertel ist einem enormen Aufwertungsdruck (Gentrifizierung) ausgesetzt. Während in diesem Gebiet früher vor allem untere Einkommensschichten und die örtliche Subkultur gelebt haben (und zum Teil auch immer noch leben) wird die Neustadt in den letzten Jahren verstärkt für einkommensstärkere Schichten interessant, an deren Bedürfnissen sich auch in zunehmenden Masse die Infrastruktur ausrichtet. Die daraus folgende Verdrängung der bisherigen BewohnerInnen und die Neuzusammensetzung der Bevölkerung führt zu unterschiedlichen Definitionen, was für wen die Neustadt ist. Während zur Zeit noch der "touristische Blick" dominiert und die "Buntheit" der Neustadt als "spannende Erlebniswelt" wahrgenommen wird, gibt es aber auch Bestrebungen, den Charakter des Viertels neu zu definieren. Die Initiativen von Haus & Grund, "Die Äussere Neustadt darf nicht zum Tummelplatz für Ausgeflippte und Aussteiger verkommen" und die enorme Kommerzialisierung des alternativen Stadtteilfestes Bunte Republik Neustadt durch den BRN e.V. sind nur zwei Beispiele für eine noch offene Auseinandersetzung.

Die Haupteinkaufsmeile Prager Strasse in der Dresdner Innenstadt ist schon seit 1999 videoüberwacht. Zu DDR-Zeiten war sie auch Aufenthaltsort für die dort Wohnenden und kein reines Geschäfts- und Konsumviertel. Die nach der Wende einsetzende Neudefinition und – bis heute noch nicht abgeschlossene – Umstrukturierung der Dresdner Innenstadt stellt dabei keine Ausnahme dar, sondern ist Teil eines bundesweiten / internationalen Prozesses, der zur Zeit in fast allen Grossstädten stattfindet. Diese Entwicklungen müssen im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen betrachtet werden:

(Un)Sicherheiten im Postfordismus

Die Krise des fordistischen Wohlfahrtsstaates und die sich daran anschliessende Neuorganisierung der Gesellschaft unter dem Dogma des Neoliberalismus liessen eine breite Palette neuer Unsicherheiten entstehen. Nachdem das wohlfahrtsstaatliche Versprechen der gesellschaftlichen (Re-)Inklusion von kurzzeitig sozial Ausgeschlossenen (beispielsweise wegen Arbeitslosigkeit) oder zumindest deren angemessene staatliche Kompensierung mit dem Siegeszug des Neoliberalismus weggefallen ist, wird sozialer Ausschluss nicht mehr als Unfall, sondern als Normalfall betrachtet. Gesellschaftliche Verantwortung wird negiert; es liegt kein strukturelles Problem mehr vor, sondern die Schuld wird allein beim Individuum verortet. Wer es nicht schafft, dem / der fehlt die Kompetenz zur verantwortungsvollen Lebensführung. Wer diese nicht ausweisen kann, dem / der muss durch staatlichen Zwang nachgeholfen werden, sei es durch Arbeitspflicht, Sozialkürzungen oder Gefängnis.

Kontrollpolitik als Sozialpolitik als Kontrollpolitik

Der Abbau des Wohlfahrtsstaates findet dabei seine Ergänzung in der Aufrüstung der staatlichen und nicht-staatlichen Kontrollstrategien.

Die Sicherheitsstrategien folgen allerdings einem neuen Wirkungsmuster. Während bis zum 19. Jahrhundert die Kontrolle des Körpers durch physischen Zwang (Verbringung des Körpers an Orte wie Gefängnis, Fabrik oder Psychiatrie) vorherrschend war, ist seitdem eine Zunahme von Massnahmen zur Kontrolle des Willens zu verzeichnen. Für den von Foucault als Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft bezeichneten gesellschaftlichen Prozess steht paradigmatisch das von Bentham entwickelte panoptische Gefängnis .

Diese Kontrollgesellschaft wird heutzutage vor allem von einem allumfassenden Sicherheitsdiskurs legitimiert: Der Zunahme gesellschaftlicher Risiken wird "Sicherheit" als ständig versprochener und angestrebter, alle Lebensbereiche umfassender, aber trotzdem immer unerreichter Zustand entgegengesetzt. Sicherheit wird zu einem Schlüsselkonzept und konstitutiven Symbol moderner Gesellschaften.

Die Produktion von (Un)Sicherheit wird von unterschiedlichen Akteuren vorangetrieben, die mit teilweise differierenden Interessen an dem Diskurs und seiner gesellschaftlichen Umsetzung beteiligt sind.

Ängste und Verunsicherungen werden politisch und ökonomisch ausgenutzt und als Herrschaftsstrategie etabliert: Die Einforderung von Flexibilität ist Ausdruck davon. Das flexible Unternehmen arbeitet gerade mit der Angst vor dem Abstieg und beutet diese Situation ganz bewusst für die eigenen Interessen aus.

Gleichzeitig äussert sich ein medial verstärktes Bedürfnis nach Sicherheitsmassnahmen in der Bevölkerung. Auf dieses subjektive (Un)sicherheitsempfinden der Menschen und nicht mehr auf reale Bedrohungen wird verwiesen, um härtere Kontrollmassnahmen und Strafverschärfungen zu fordern oder zu legitimieren.

Die Forderung nach mehr Sicherheit wird durch staatliche und private Angebote in Form von Überwachungstechnologien, Gesetzespakete oder Kompetenzerweiterungen des BGS etc. beantwortet. Kontroll- und Überwachungsmassnahmen werden nicht mehr von einem einzelnen Akteur (Staat) initiiert, sondern von einer Vielzahl von Akteuren angeboten.

Wir können daher nicht mehr von einem Überwachungsstaat sprechen, sondern von einer Überwachungsgesellschaft.

Unsicherheiten im urbanen Raum

Der zunehmende Diskurs über Sicherheit und Kriminalitätsfurcht ist vor allem ein Diskurs über urbane Unsicherheiten. Die Stadt ist der Ort an dem die meisten soziale Konflikte ausgetragen werden und in dem soziale Veränderungen am deutlichsten an die Oberfläche treten.

Unsicherheiten werden häufig aber nicht an den eigenen sozialen Lebensbedingungen festgemacht, sondern an "Verwahrlosungserscheinungen" und "Unordnung" im öffentlichen Raum. Graffitis, Müll, laute Jugendliche, Kleinkriminalität werden als Bedrohung empfunden und dienen als Projektionsfläche für gesellschaftliche Unsicherheiten. Das Gefühl von Unsicherheit wird dabei oftmals mit Menschen in Zusammenhang gebracht, die in irgendeiner Art und Weise von der Norm abweichen. Städtische Verunsicherung kann daher als Angst der Privilegierten und der Integrierten vor den Marginalisierten und Benachteiligten interpretiert werden. Von ersteren wird behauptet, sie hielten den öffentlichen Raum besetzt, weshalb vor allem die City und die innenstadtnahen Bezirke für die Mittelschichten unter dem ideologischen Paradigma "Rückeroberung der öffentlichen Räume" interessant gemacht und aufgewertet werden.

Warum wir vom umkämpften Raum sprechen

Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung von Öffentlichkeit, sondern um die Verschiebung von Herrschaftsbereichen: Bestimmte Personengruppen sollen von der Benutzung von Räumen ausgeschlossen, damit sie für andere begehbar und nutzbar werden. Tatsächlich öffentlich waren städtische Räume aber auch in der Vergangenheit nicht. Verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist schon immer das Recht auf Stadt streitig gemacht worden: Frauen, Juden und Jüdinnen, Armen oder Jugendlichen. Herrschaftsverhältnisse spiegeln sich also auch in der Definition öffentlicher Räume wieder und machen sie daher vor allem zu umkämpften Räumen. Die derzeitige Entwicklung wird daher auch als "Revanchismus der Mittelklassen" charakterisiert: Der absturzgefährdeten Mittelklasse soll der öffentliche Raum mithilfe von privaten und staatlichen Kontrollstrategien zurückerobert werden. Herrschaft über den Raum ist eines der exklusivsten Mittel der Herrschaftsausübung, da sich die Manipulation der räumlichen Verteilung von Gruppen als Instrument der Manipulation und Kontrolle der Gruppen selbst durchsetzen lässt.

Exklusion und verstärkte Kontrolle

Um die "Rückeroberung" durchzusetzen werden zwei Strategien angewendet: die Exklusion und die verstärkte Kontrolle.

Exklusion als sozialer Ausschluss soll bestimmte Gruppen von der Benutzung überhaupt ausnehmen. Beispiele dafür sind architektonische Beschränkungen (beispielsweise helle Räume oder verkehrstechnische Massnahmen), aber auch die (de facto) Privatisierung von ehemals öffentlichen Räumen, die zu veränderten rechtlichen Voraussetzungen geführt hat: Auf den Bahnhöfen, in Shoppingmalls und zum Beispiel auf dem Potsdamer Platz findet jetzt das Hausrecht des Eigentümers Anwendung und wird durch private Sicherheitsdienste vollstreckt. Unerwünschte Personen lassen sich dann ohne weiteres durch Hausverbote fernhalten. Einschätzungen, wer als erwünscht oder als unerwünscht zu gelten hat, richten sich nur nach den Umsatzkriterien des Unternehmers.

Auch so genannte kommunale "Bettelsatzungen" gehören dazu – sie verbieten das aggressive Betteln und das Trinken oder Schlafen in der Öffentlichkeit: Bei Verstoss droht Geldbusse, Verbringungsgewahrsam und Aufenthaltsverbot.

Ziel der verstärkten Kontrolle als zweite Strategie ist es dagegen, nichterwünschtes Verhalten zu unterbinden beziehungsweise sichtbar in Schach zu halten: Verdachtsunabhängige Passkontrollen an so genannten gefährlichen Orten, verstärkte Präsenz von Polizei und Sicherheitsdiensten, rassistische Kontrollen durch den BGS auf Bahnhöfen und im grenznahen Gebiet gehören dazu. Und die Überwachung durch Videokameras.

Warum sind wir gegen Videoüberwachung?

Neu ist Videoüberwachung nicht; sie wird in der BRD bereits seit den siebziger Jahren – offiziell - als Verkehrslenkung, aber auch für die Überwachung von Demonstrationen eingesetzt. In der DDR waren Kameras auch keine Seltenheit; sie dienten der gezielten Überwachung "relevanter" öffentlicher Räume. Videokameras Privater existieren, solange es die Videotechnik gibt; ihr Einsatz an der Schnittstelle von Objektschutz und öffentlich begehbaren Raum machen sie besonders brisant. Erst seit den neunziger Jahren findet die Videokamera auch Anwendung als präventiv-polizeiliche Massnahme zur Verhaltenskontrolle und -normierung. Vorreiter war 1999 die Stadt Leipzig; mittlerweile ist die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen in den meisten Polizeigesetzen festgeschrieben.

Videoüberwachung betrifft grundsätzlich alle, die sich an dem Ort aufhalten oder ihn durchqueren; nur die Intensität differiert: nach britischen Untersuchungen sind vor allem Jugendliche (in Gruppen) und Angehörige ethnischer oder subkultureller Minderheiten von gezielter Observation (und anschliessendem Polizeieinsatz) betroffen. Die Unsicherheit, nach welchen Kriterien gezielt beobachtet wird und wann für den Beobachter eine zu sanktionierende Abweichung anfängt, bleibt und schafft dadurch die Möglichkeit der Verhaltenssteuerung.

Wir denken nicht, dass Videoüberwachung die schärfste Massnahme im staatlichen und privaten Arsenal der Kontrollstrategien darstellt, das Grenzregime und der Arbeitszwang zum Beispiel wirken viel existenzieller. Allerdings fand und findet insbesondere zur Überwachung durch Kameras eine öffentliche Diskussion und Auseinandersetzung statt, auch wenn die verschärften Sicherheitsmassnahmen und die Rücknahme von Freiheitsrechten insgesamt auf einen breiten Konsens stossen. Wir hoffen, dass die potentielle Betroffenheit von Vielen Möglichkeiten schafft, über einen kleinen Kreis hinaus Kontrollstrategien und Ausschlussmechanismen zu diskutieren und Handlungsansätze zu entwickeln.

So what?

In der Linken findet seit einigen Jahren eine Auseinandersetzung mit den sich verschärfenden gesellschaftlichen Verhältnissen in den Städten statt. Ein Schritt in dieser Auseinandersetzung waren z.B. die Innen!Stadt!Aktion! gegen Privatisierung, Sicherheitswahn und Ausgrenzung. Initiativen wie City.Crime.Control, urbane panik und verschiedene Gruppen gegen Videoüberwachung arbeiten zu Verdrängungspolitiken, Kontrollpraxen kommunaler und privater Sicherheitsdienste, Privatisierung der Bahnhöfe. Daran wollen wir anknüpfen.

Dabei dient uns Videoüberwachung nur als Aufhänger zur Thematisierung des Zusammenhangs zwischen dem Ende des fordistischen Wohlfahrtsstaates und der kontrollpolitischen Verwaltung des Elends. Wir wollen den aktuellen Sicherheitsdiskurs entlarven, als das was er ist: eine Ablenkung von den tatsächlichen Ursachen für Unsicherheiten, die die allgemeinen Lebensverhältnisse zeichnen oder noch zeichnen werden.

Wir streben eine Kooperation mit Betroffeneninitiativen und anderen politischen oder künstlerischen Gruppen an. Dabei verstehen wir uns weder als StellvertreterInnen von so genannten Betroffenen, noch wollen wir durch genaue Benennung und Kategorisierung die polizeiliche Erfassungslogik nachahmen. Denn sie arbeitet mit an einem Konsens, einer gemeinsamen Vorstellung davon, wer gemeint ist, wenn von "unerwünschten Personengruppen" die Rede ist und stützt gesellschaftliche Konstruktionen von exludierten Personengruppen. Wir wollen viel lieber die Vorstellungen von Normalität bekämpfen, entlang derer Ein- und Ausschlüsse entstehen. Wir bestehen auf einer Heterogenität der Gesellschaft. Wir fordern das Recht auf Abweichung ein, sowie das Recht auf Stadt, also das Recht nicht von städtischer Zentralität ausgeschlossen und in Randzonen abgedrängt zu werden.

Handlungsansätze könnten z.B. Interventionen bei rassistischen Kontrollen des BGS auf Bahnhöfen sein, das temporäre Funktionsunfähigmachen von Kameras, das bewusste PLATZNEHMEN oder "Herumlungern" in Räumen, die dem Konsumieren vorenthalten sind, das Erschliessen neuer Plakatierflächen durch Wildplakatieren – auch das eine Einforderung von öffentlichen Raum etc.. Ebenso lassen sich Anbieter von Überwachungstechnologie, Biometrie unternehmen oder private Sicherheitsdienste ins Visier nehmen.

Literaturhinweise:

StadtRat (Hg.): Umkämpfte Räume - Städte & Linke
Verlag Libertäre Assoziation, Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Strasse 1998
Rezension von philtrat (Philosophische Fakultät Uni Köln)

Mike Davis: City of Quartz – Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles
Verlag der Buchläden Schwarze Risse / Rote Strasse 1999
Rezension von telepolis


JungdemokratInnen/Junge Linke: Freiheit stirbt mit Sicherheit – Handbuch gegen Überwachung und Ausgrenzung
Karin Kramer Verlag 2001

Jochen Becker (Hg.): bignes? Kritik der unternehmerischen Stadt
b_books Berlin 2001
Rezension von telepolis


Neue Gesellschaft für bildende Kunst (Hg.): AG BAUSTOP-RANDSTADT - aggressives, nicht-akkumulatives städtisches handeln auf knapp 300 Seiten
b_books Berlin 1999


spot_off! Dresdner Ini gegen Videoüberwachung

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