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Neunter November in Deutschland
Einleitung Die deutsche Geschichte setzt sich aus einer Abfolge möglicher Unmöglichkeiten zusammen, die in diesem Text jedoch nur unvollständig angeschnitten werden können. Anhand des 9. November 1918, 1938 und 1989 soll eine Kontinuität von Grössenwahn und Abwehraggression gegenüber eigener Geschichte nachgewiesen werden. Es ist ebenso unabdingbar, diese konkreten Daten, welche natürlich nur symbolischen Aussagewert haben, als Folge eines Ursachen-Wirkungs-Gefüges deutscher Ideologie (1) in einen Kontext zu stellen. Die Konstanten dieser Ideologie, die auch nach Auschwitz keinen oder nur halbherzigen Reflexionen unterzogen wurden, bedingen nach wie vor revisionistische, antisemitische und völkisch-nationale Denk- und Handlungsweisen. In der Bevölkerung werden sie mehr oder minder offen gepflegt. Es ist relativ einfach, Parallelen zu den politischen Veranstaltungen an den Jahrestagen und damit verbundenen "Festivitäten" zum 13. Februar in Dresden zu ziehen. An diesem Tag finden verschiedene Foren statt, die den - auf den 1. Blick scheinbar unterschiedlichen Motivationen der Anwesenden - eine Möglichkeit bieten, sich zu artikulieren. Auf den 2. Blick jedoch werden die theoretischen Unterschiede marginal. Denn bei allen sonstigen Unterschieden haben sie eines gemeinsam - die deutsche Logik. Als Basis und Idee bietet sie eine allseitig akzeptierte Grundlage gemeinsamen Verständnisses, um in das offen oder verdeckt revisionistische "Klagelied der Deutschen" einstimmen zu können 9. November 1918Einen der Hauptausgangspunkte des Klageliedes vom deutschen Opfersein bildet die Implosion des deutschen imperialistischen Staates am 9.11.1918. An diesem Tage wurde in Deutschland eine (mehr oder minder ausgeprägte) Demokratie geboren. Wohlgemerkt entstand sie nicht durch eine selbstständige Emanzipation der Bevölkerung, sondern durch den Zusammenbruch des imperialistischen Systems im Weltkrieg, der ein Machtvakuum und somit den Platz für die Demokratisierung schuf. Nach der Abdankung des Kaisers wurden sofort eine Räte- und eine Repräsentative Demokratie ausgerufen, drei Tage später in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne (durch Matthias Erzberger) ein Waffenstillstand unterschrieben. Bis zum Friedensvertrag von Versailles ein halbes Jahr später setzte sich die repräsentative Demokratie gegen die Räterepublik durch und erlebte einen Rechtsruck. Neben den verbliebenen regulären Truppen spielten hierbei, vor allem bei der Niederschlagung der Münchener Räterepublik, marodierende kaisertreue bzw. extrem rechte Freikorps eine tragende Rolle. Der Friedensvertrag hatte für alle politischen Kräfte von der extremen Rechten bis hin zur SPD-Linken ausschliesslich taktische Bedeutung, die Bedingungen wurden politisch abgelehnt und nur aufgrund der Unmöglichkeit der Weiterführung des Krieges akzeptiert. Auch das demokratische System selbst war teilweise lediglich die Erfüllung einer Vorbedingung des Waffenstillstandes, es besass wenig Nachhaltigkeit. Von der extremen Rechten wurde eine Sichtweise verbreitet, nach der die Kräfte der politischen Mitte und der Linken die Niederlage im Weltkrieg absichtlich herbeigeführt, den Versailler "Schandfrieden" begrüsst und die Einschränkung des deutschen Machtbereichs betrieben habe; Erzberger (der Unterzeichner des Waffenstillstandes) wurde 1921 ermordet. Als Synonym für diese Gemengelage kann die Dolchstosslegende angeführt werden. Nach einer Zeit institutionell wenig zusammenhängender politisch rechter Gruppierungen während des Kaiserreiches entstand nach dessen Ende ein kontinuierliches Spektrum zwischen der politischen Mitte und frühen pränationalsozialistischen Bestrebungen. Letztere stellten ein explosives Gemisch aus völkischen Sekten und ehemaligen Autoritäten der kaiserlichen Verwaltung (Ludendorff) dar, das sich bereits in der unruhigen Phase 1918/19 (vor allem in München) bei der Niederschlagung linker Aufstandsbewegungen bewährt hatte. Ein Grund ihrer Popularität lag wohl in der Gleichzeitigkeit eines Bezugs auf die "gute alte Zeit" und eines Auftretens als "moderne" Massenbewegung in der instabilen Demokratie. Das feedback ihrer Propaganda in der Bevölkerung war jedenfalls hervorragend; gern liess mensch sich gerade von ihnen sagen, dass der Krieg eigentlich fast gewonnen worden sei, dass die deutsche Kultur respektive "Rasse" eigentlich überlegen sei, dass lediglich die zu dieser Zeit regierenden Kräfte für die Niederlage und ihre Folgen verantwortlich seien. In dieser Phase deutscher Geschichte resultiert der Opfermythos nicht zuletzt aus dem Nebeneinander von Systemopposition und Systemimmanenz extrem rechter Kräfte. Hier taucht auch eine Vielzahl von Verschwörungstheorien auf. So wurde u. a. der Bogen vom Kampf gegen linke Kräfte zum Antisemitismus geschlagen; alle vermeintlichen Gegner eines völkischen Nationalbewusstseins wurden als "jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung" bezeichnet (während auch die Linke gelegentlich mit antisemitischer Propaganda aufwartete). Ebenso wurzelt in dieser Epoche die nachhaltige Akzeptanz völkischer Ideologie, die die Möglichkeit zum Aufbau eines Nationalsozialistischen Staates allgemein bietet, aber auch der Reflex für eine zukünftige Stilisierung der Deutschen zum Opfer nach dem zweiten Weltkrieg und zum Abwälzen bzw. Abstreiten jeglicher Schuld und Verantwortung. 9. November 1938Die Pogrome (2) reihen sich ein in eine Folge nicht institutionalisierter Verfolgungsprozesse, welche durch den nationalsozialistischen Staat manifestiert und zur offiziellen Politik erhoben wurden. Im Rahmen eines permanenten Antisemitismus gehen den Pogromen erhebliche Diffamierungen und Verweigerungen zur Teilnahme am öffentlichen Leben voraus (z.B. "Reichsbürgergesetz" und "Gesetz zum Schutz des Deutschen Blutes") Die völlige Durchdringung und Nutzung der Grausamkeiten als politisch-ideologisches Programm konnten den Pogromen ein passendes Fundament bieten. Während der Pogrome um den 9. November 1938 herum konstituierte sich die nichtjüdische Bevölkerung zu einem plündernden, brandschatzenden und mordenden Mob oder tolerierte die Taten. Eine kurze Bilanz des 9.11.1938: Ermordung von 91 Juden und Jüdinnen bei "spontanen" Kundgebungen, 267 in Brand gesteckte und beschädigte Synagogen, mehr als 7.000 zerstörte Geschäfte sowie Enteignung jüdischer Geschäfte, Schändung fast aller jüdischen Friedhöfe, Deportation von mehr 30.000 Menschen in Konzentrationslager, zahlreiche Verordnungen zur Einschränkung des alltäglichen Lebens der jüdischen Bevölkerung, verbunden mit einer zunehmenden Stigmatisierung. Grössere aussenpolitische Reaktionen blieben aus. Dabei hatten Juden und Jüdinnen die Schäden auf eigene Kosten zu tragen (Versicherungssummen sowie die Verordnung zur Zahlung von 1 Milliarde Reichsmark an den deutschen Staat). " Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv..." (3) Bei diesen Pogromen handelte es sich um Entladungen des irrationalen Hasses gegenüber konkreten Subjekten. Der einzelne geht mit Billigung seines Hasses in der Gemeinschaft auf und jener erhält so eine Potenzierung. Im Laufe der ideologischen und technischen Entwicklung wurde in den Euthanasieanstalten eine serielle Tötungspraxis erprobt, die später ihre millionenfache Anwendung finden konnte. So wurde die Verfolgung und Ermordung von Juden und Jüdinnen als "lebensunwert" geltenden Menschen industriell betrieben und perfekt durchorganisiert; das Subjekt des Opfers der Massenvernichtung ging im Denken der TäterInnen und der Gefühllosigkeit gegenüber den Opfern verloren. Es wurde zum Objekt, mit Nummer und tabellarischer Korrektheit. 9. November 1989 - "Neue Nation? Neue Identität?""Vom Verlierer, der sich trotzig in die Niederlage fügte, und aus dem Zwang zur Selbstbeschränkung das Recht auf Beschweigen und Erinnerungsabwehr ableitete, hin zur auferstandenen Grossmacht, die aus der auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Geschichtsbetrachtung die höheren moralischen Werte für sich in Anspruch nimmt." (4) Am 09.11.1989 fiel die innerdeutsche Grenze. Dies hatte zur Folge, dass sich Deutschland nicht nur geografisch veränderte, sondern eine neue Ära, bedingt durch die Bestrebungen vieler Menschen, fernab belästigender Vergangenheit, beginnen konnte. (5) Es entstand eine Situation, die nun dieses Land, ausgestattet mit neuer Souveränität, zu einem neuen Mitspracherecht in weltpolitischen Angelegenheiten befähigen sollte. Gern werden also bei jeder Gelegenheit die Ereignisse vom 09.11.1989 glorifiziert, um den ideologischen Unterbau von einer geeinten Nation salonfähig zu machen. Dies zielt in der logischen Konsequenz auf die Reanimierung des Nationalgedankens auf Basis neuer deutscher Selbstverständlichkeiten ab. (6) Um jedoch jene Neuverortung zu ermöglichen, sind die einen oder anderen "Altlasten deutscher Geschichte" zu beseitigen, indem sie verleugnet oder relativiert werden. Ob es nun die Vertriebenenverbände sind, die durch die Einforderung pluralistischen Gedenkens die Leiden der Opfer des Holocaust mit denen der Vertriebenen gleichsetzen; oder an dem ignoranten und verharmlosenden Umgang mit der Zwangsarbeit und den ZwangsarbeiterInnen, die überhaupt nur auf Druck von Sammelklagen und der amerikanischen Regierung teilweise Entschädigungszahlungen erhielten und äusserst demütigende Auszahlungssummen und -modalitäten in Kauf nehmen mussten. (7) - geschaffen wird eine Sphäre ungebrochener positiver Identität, die somit einen wohligen Normalzustand deutscher Verhältnisse herstellt. Dies führt zwangsläufig zu einer Konstruktion angeblicher Unschuld und somit zu einer Nivellierung (Milderung, Aufhebung) deutscher Schuld. Die Aufrechnung deutscher Schuld wird dabei betrieben, "indem man die Verbrechen des NS nicht beschweigt, sondern sie den Folgen für die TäterInnen strukturell gleichmacht". (8) "Dem Geschichtsrevisionismus, in seinen subtileren wie in seinen radikaleren Varianten, geht es strategisch um eine Versöhnung deutscher Identität mit deutscher Geschichte und Kultur, also eine deutsche Idealisierung, Renationalisierung und Selbstversöhnung, und zwar über eine Befassung mit der Vergangenheit, die nur der Abwehr der Erinnerung ans Grauen dient ". (9) Hier geht es um eine Abwehr von Schuld und ideologischer Konstanz, die weder nach 1945 noch heute ernsthaft diskutiert wurde und wird, so dass die Abwehr von Schuld von Anfang an, durchsetzt mit einer zu Auschwitz führenden Ideologie, in den verschiedenen Formen von Erinnerungsabwehr münden musste, beispielhaft ist die Idee von einer "Stunde 0" ab 1945. Dieses Konzept beinhaltet die staatspolitischen Bestrebungen institutioneller Verdrängung. Es sollte komplett (isoliert von dem Geschehenen) neu angefangen werden als hätte es Auschwitz nie gegeben. Es galt, kurz nach dem Krieg, eine politische und ökonomische Stabilität zu erlangen. Dies hatte zur Folge, dass eine kritische Auseinandersetzung, die unabdingbar auf individueller Reflexion zu fussen hat, nicht erfolgte. In der BRD und DDR fanden unterschiedliche "Verarbeitungen" statt. Reduzierungen des TäterInnenkollektives auf eine herrschende Klasse sprachen auch das Volk (welches im Allgemeinen wohl zur Arbeiterklasse gezählt werden konnte) von einer Verantwortung frei. Antisemitische Denkweisen bestanden nach 1945 fort, alte Strukturelemente (Symbole, Erziehung zum vorauseilenden Gehorsam und Arbeitsethos, Rassismus, Nationalismus, Militarismus etc.), die in Auschwitz gemündet hatten, blieben erhalten. Heute wird zum Einen die NS-Geschichte verstärkt historisiert und von allen anderen Ereignissen abkoppelt, zum Anderen wird die Vergangenheit in zwei separate Kategorien aufgespalten: in "antisemitischen Wahn" und den Rest, welcher in seinem isolierten Zustand aufgegriffen und positiv aufgeladen wird. (10) Der 9. November 1989 steht heute für den Aufbruch eines neuen geeinten Deutschland. Seitdem wurde es möglich, mit der Begründung "Auschwitz" und des "geläuterten Bewusstseins" militärische Interventionen im Ausland zu unterstützen. Gedenken an den 9. November 1989 an den 9. November 1938Das Schweigen nach dem 2. Weltkrieg löste sich nun mehr und mehr in einer popularisierten Gedenkveranstaltung auf, welche jedoch nichts mit einer tatsächlichen Auseinandersetzung zu tun hat. Viele Gedenkveranstaltungen sind von jüdischen Gemeinden und Vereinen, die meisten anderen werden von offiziellen Stellen organisiert. Obschon diese letzteren - offiziellen - Veranstaltungen auf eine gewisse Anzahl reflektierter TeilnehmerInnen des Gedenkens zurückgreifen bzw. verweisen können, sind sie eher formeller Natur. Sie sind gut zur Wahrung des humanistischen Gesichtes und des Scheins der "verarbeiteten" Vergangenheit auf internationalem Parkett. Freilich findet diese "Vergangenheitsverarbeitung" realpolitisch nur allzu schnell ihre Grenzen: die Bitten des Zentralrates der Juden, die deutsche Verantwortung für den Holocaust in der Präambel des Grundgesetzes anzuerkennen, fruchteten nichts; auch die Entschädigungen der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen waren deutschen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft ihren symbolischen Gehalt nicht wert. Seit dem 9. November 1989 findet eine zunehmend positive Besetzung statt, die Erinnerung an den Mauerfall drängt das Gedenken an die Pogrome vom November 1938 zurück. Zugleich setzt die Erinnerung an den 09.11.1989 einen positiven Kontrapunkt zum eher negativen Erinnern an die Pogrome von 1938. " kein Gedanke an Rehabilitierung deutschnationalistischer Identifikationen, der nicht gleichzeitig die Revision der Geschichte des deutschen Antisemitismus und den Völkermord an den europäischen Juden in sich trüge oder diese Geschichte aus dem Bewusstsein tilgen müsste." (9)
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